“Partisanen” – Zur Kunst von Laurent Schmid

 “Selbst unsere häufigen Irrtümer haben den Nutzen,

daß sie uns am Ende daran gewöhnen zu glauben,
alles könne anders sein, als wir es uns vorstellen.”
– Georg Christoph Lichtenberg.
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[Philip Ursprung in: Daidalos, Architektur Kunst Kultur, Die Tücke des Objekts, 59, März 1996, S. 98-103]

Auf dem Müll der sowjetischen Botschaft in Bern fand der Schweizer Künstler Laurent Schmid Ende der achtziger Jahre einige Abschnitte von alten russischen Filmen. Was während der Zwischenkriegszeit zu den technisch avanciertesten Bildträgern gehörte und den Diplomaten wohl dazu gedient hatte, für ihr aufstrebendes Reich Propaganda zu machen, war nun als sprödes, feuergefahrliches Überbleibsel entsorgt worden. Schmid interessierte sich besonders für die Staubablagerungen, die sich auf der Filmschicht gebildet hatten. Er vergrösserte einzelne Stellen aus den Objets trouvés, kopierte sie mehrmals und produzierte daraus eine Serie von grossformatigen Schwarzweissbildern unter dem Titel “Staubbeutel”. Auswahlkriterium waren die verwickelten und geschwungenen Arabesken, welche der Zufall aus den einzelnen Fusseln geformt hatte. Und wie sich in der Figur der Arabeske zeichenhafte Abbildfunktion und abstrakte Form verbinden, so sind auch Schmids “Staubbeutel” Motive im doppelten Sinn von Sujet und Anlass. Sie handeln einerseits vom schönen Schwung der Linien auf einem diffusen Untergrund und verweisen andrerseits dar auf, dass jegliche Ordnung früher oder später durch unvorhergesehene Störungen zersetzt wird. Sie können gelesen werden als Bilder für das Ende der Sowjetunion, deren Zerfall weniger durch abrupte Überwindung denn durch die Summe unkalkulierbarer Widerstände zustande gekommen ist2, oder als Allegorie einer kunsthistorischen Situation seit den frühen 1980er Jahren, in der die Erinnerung an die avantgardistischen Projekte der heroischen Moderne überlagert ist durch das postmoderne Bewusstsein der künstlerischen Partikularismen.

Die unscheinbaren Partikel des Widerstands, der “Sand in der Vaseline”, wie es Martin Kippenberger einmal salopp formuliert hat, sind seither in verschiedenen Variationen Gegenstand von Schmids Kunst geworden. Für die Serie der “Partisanen” greift er auf Reproduktionen von Schwarzweissaufnahmen italienischer Widerstandskämpfer zurück, in deren Raster sich ebenfalls sogenannte Partisanen ein Fachausdruck im Druckgewerbe für winzige Fremdkörper auf der Druckvorlage, eingeschleust haben. Die unerwünschten Schmutzteile, welche der Aufmerksamkeit der Drucker entgangen sind, unterwandern nun ihrerseits die Kohärenz der photographischen Abbildung. Sie lassen den Betrachter bei der Lektüre der Bilder stolpern und machen gerade dadurch auf die Künstlichkeit der reproduzierten Abbildungen aufmerksam. Ja, sie irritieren die Vorstellung von Authentizität und Dokumentation, die mit dem Medium Photographie traditionell verbunden werden, und lenken den Blick auf deren Manipulierbarkeit und damit auch auf die Tatsache, dass mittels Photographien Legenden gebildet und tradiert werden. So können die winzigen Druckfehler, die wie Schuss- oder Wurmlöcher in den Porträts der Partisanen eingegraben sind, auch als Zeichen des Zweifels an den Heldengeschichten der italienischen Resistenza gelesen werden. Im Gegensatz zu einem Künstler wie Christian Boltanski, der die auratische Präsenz ausgebleichter und unscharfer Photos ausnutzt, um eine morbide Atmosphäre zu erzeugen, bleibt Schmid skeptisch gegenüber dem künstlerischen Verwerten der Photographie als Reliquie. Photographie beschränkt sich in seinen Augen weder darauf, ein neutraler “Abdruck”3 von Wirklichkeit zu sein, noch möchte er sich auf ihren Dokumentcharakter im Sinne des Barthes’schen “ça-a-été”4 verlassen. Reproduzierte Bilder sind für Schmid immer Teil einer übergreifenden Ordnung von austauschbaren Elementen, der sich die Panne als einmaliges “Ereignis” prinzipiell widersetzt. Sie sind autoritäre Massenmedien, an deren Monopol durchaus gerüttelt werden darf.

Auch auf dem Terrain der Naturwissenschaften wird die Erkennt nis von “Wahrheit” traditionell mit Bildern legitimiert. Laurent Schmid hat Photographien aus astronomischen Zeitschriften ausgewählt und wiederum nach Druckfehlern untersucht. Unter Tausenden von hellen Punkten auf dunklem Grund ist die Chance gross, unbemerkt durchzuschlüpfen. Vom geübten Auge werden sie, zusammen mit unzähligen anderen Fehlerquellen, quasi automatisch übersehen.5 Das Auge des Druckers hingegen erkennt sie selten, und die Laien sind beim Betrachten der Hochglanzbilder kaum imstande, echte von falschen Sternen zu unterscheiden. Auch hier ergreift Schmid als Künstler Partei für die Pannen und Fehler, die sich dem Ideal von Präzision und Reinheit in den Weg stellen. Er lässt sich von ihnen zu neuen Formen anregen und greift elektronisch in die Bildgestaltung ein, um neue, unerhörte Konstellationen zu erhalten. Sein “Atlas” referiert allerdings nicht an die ästhetische Kategorie des Erhabenen, wie beispielsweise die monumentalen Aufnahmen der “Stars” eines Thomas Ruff oder die Gemälde von Himmelskuppeln von Ross Bleckner. Vielmehr dekonstruiert er ironisch den reaktionären Gehalt solcher neoexpressionistischer Visionen und zugleich die naive Gläubigkeit an die Unfehlbarkeit der “exakten” Wissenschaft. Einer Naturwissenschaft, die “laut, frech, teuer”6 auf die Geisteswissenschaften und die Kunst hinabsieht, mit den Worten von Jürgen Mittelstrass: “Gilt doch die Philosophie seit vielen Jahrhunderten, zumal aus der Sicht der Naturwissenschaften, als das eigentliche Füllhorn von Irrtümern und Wissenschaft als der beharrliche Versuch, sie geduldig abzuarbeiten.”7

Eine seiner jüngsten Serien, “Elektrisieren auf Bergen” – der Titel zitiert eine rätselhafte Notiz von Lichtenberg – spielt in den Kulissen der Industriearchitektur der Jahrhundertwende. Die Arbeiten sind im Atelier nach alten Bildvorlagen aus Schmids Archiv und mittels verschiedener technischer Tricks entstanden.8 Vor dem Hintergrund eines düsteren Himmels und über schemenhaften Sheddächern und Schloten verlassener Fabrikhallen, über Backsteinfassaden und Eisenmasten, entladen sich Blitze, Lichtwolken und Strahlenbündel. Die Infrastrukturen der zweiten Welle der industriellen Revolution sind dargestellt als verwahrloste Ruinen einer unwiederbringlich, ja mythischen Vorzeit, zwischen denen die ausser Kontrolle geratene Energie nie gesehene Funkenregen produziert, die rätselhaft schön aufblitzen.

Schmids Methode der Aneignung von bestehenden Photographien, seien es solche aus dem Bereich der Frühzeit des Films, der Politik, der Naturwissenschaft oder der Technik, steht im Zusammenhang mit dem allegorischen Ansatz, den Craig Owens, gestützt auf die Begrifflichkeit Walter Benjamins, als charakteristisch fur die bildende Kunst der Postmoderne formuliert hat.9 So ist auch er ein Künstler, der Bilder nicht erfindet, sondern sie konfisziert; der keine ursprüngliche Bedeutung erschliesst, sondern der bestehenden Bedeutung eine neue hinzufügt; der durch das Fragmentarische angezogen wird, und den das Ephemere der Phänomene interessiert. Aber er geht noch einen Schritt weiter. Wenn, wieder nach Owens, der “dekonstruktivistische Impuls der postmodernen Kunst sich von der ‘selbstkritischen Tendenz'”10 der modernen Kunst unterscheidet, so entzieht sich Schmid als Künstler der Einordnung in die Phalanx der Dekonstruktivisten dadurch, dass er eine bewusst ambivalente Haltung einnimmt. Er verwendet den Zufall und die Pannen für seine Arbeit, aber nicht im Sinne Duchamps oder Cages als künstlerische Spielregel, sondern sehr kontrolliert als Gestaltungselement. Er verwendet technische Kniffe, experimentiert und bastelt, aber nicht wie beispielsweise Sigmar Polke zur Thematisierung des Prozesses der Kunstherstellung, sondern sehr pragmatisch als Mittel für Effekte. Seine Bilder handeln von der Skepsis bezüglich der Allmacht von Photographie und Fernsehen und zeugen zugleich von einem liebevollen Respekt gegenüber der Apparatur und deren Anfälligkeit. Die Kritik der Konzeptkünstler der 1960er Jahre an der physischen Präsenz der Kunst sind in seinem Ansatz inkorporiert – was ihn keineswegs hindert, greifbare und durchaus malerisch funktionierende “Werke” herzustellen. Und nicht zuletzt schafft das Nebeneinander von reproduzierten Bildern und “originalen” Störungen, ein labiles Gleichgewicht, das zu keiner Zeit aufgehoben wird und ein stetes Hin- und Herschwanken der Betrachtung bedingt. Jeder fixe, eindeutige Standpunkt gegenüber seinen Arbeiten wird so von vorneherein verunmöglicht. Darin liegt das kritische Potential von Schmids Ansatz, und hier berührt sich seine Kunst mit Brechts Satz, dass Ordnung nichts als der Ausdruck eines Mangels sei.

1 Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher. Hrsg. Franz H. Mautner,J (1789-93),J 919, Frankfurt a. M.: Insel, 1983, S.413

2 “Die Geschichte im allgemeinen und die Geschichte der Revolutionen im besonderen ist stets inhaltsreicher, mannigfaltiger, vielseitiger, lebendiger, “vertrackter”, als die besten Parteien, die klassenbewußtesten Avantgarden der fortgeschrittensten Klassen es sich vorstellen” schrieb Lenin 1920. W. I. Lenin, “Der ‘linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus” (1920), in: W.l. Lenin, Ausgewählte Werke. Berlin: Dietz, 1979, Bd. 3, S. 463-464.

3 Vgl. Jean-Marie Schaeffer, L ‘image précaire, Du dispositif photographique. Paris: Seuil, 1987 S. 47..

4 Roland Barthes betont, dass bei der Photographie, im Gegensatz zur Malerei, nie verneint wer den kann, dass eine Sache da war: “…dans la Photographie, je ne puis jamais nier que la chose a été là. Il y a double position conjointe: de réalité et de passé. Et puisque cette contrainte n’existe que pour elle, on doit la tenir, par réduction, pour l’essence meme, le noème de la Photographie. Ce que j’intentionnalise dans une photo (ne parlons pas encore du cinéma) ce n’est ni l’Art, ni la Communication, c’est la Référence, qui est l’ordre fondateur de la Photographie. Le nom du noème de la Photographie sera donc: “Ca-a-été”…Roland Barthes, La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard, 1980, S. 120.

5 Die “Säuberung” des “lärmigen” Rohmaterials astronomischer Beobachtungen wird beschrieben in: James Elkins, “Art History and Images That Are Not Art”, in: The Art Bulletin, Bd. 76, Nr.4, Dez. 1995, S. 558.

6 Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang. Frankfurt a. Main, 1986, S. 385.

7 Jürgen Mittelstrass, “Die Wahrheit des Irrtums”, in: Dieter Czeschlik (Hrsg.), Irrtümer in der Wissenschaft. Berlin, Heidelberg etc.: Springer, 1987, S. 48.

8 Vgl. zu den Herstellungsprozessen und der Auswahl der Bildvorlagen Konrad Bitteli, “Störfälle und Fehlstellen”, in: Laurent Schmid. Ausstellungskatalog, Kunsthalle Bern, 1995, S. 7-17.

9 Craig Owens, “The Allegorical Impulse: Toward a Theory of Postmodernism”, ib: Brian Wallis (Hrsg.), Art After Modernism: Rethinking Rpesentation, New York/Boston: The Museum of Contemporary Art/Godine, S.203-235.

10 Ebenda, S. 235.